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Von Vagusnervtherapie und anderen fragwürdigen Methoden

Die einzig wahre Lösung...

... ist oft gar keine.

Mit großer Sorge und Verwunderung beobachte ich aktuell, dass immer mehr fragwürdige methodische Ansätze aus dem Boden schießen, die quer durch TikTok, Facebook, Insta oder YouTube vor sich hin propagiert werden, die einzige wahre Lösung für das reaktive Fehlverhalten Deines Hundes zu sein. Die aktuell durch’s Dorf getriebene Kuh: die Vagusnervtherapie. – Aha. Nun denn. – Sie soll endlich das Allheilmittel für „den irgendwie anderen, ständig aus der Reihe tanzenden Hund, der alle anderen Vierbeiner aufmischt und bei dem alle anderen Tipps, Traineransätze und Online-Kurse nichts gebracht haben“ sein.

Und dann taucht sie vor Dir auf: Diese eine Lösung, auf die bisher noch niemand gekommen ist, die einzige Wahrheit über den Hund, Du musst nur dies oder das tun, dann läuft's. Hier ist sie: Die erste wirkliche Methode, mit der Du deinen Hund leinenführig bekommst, er Artgenossen nicht mehr anpöbelt und auch seine Hyperaktivität verschwindet wie durch Zauberhand. In nur einigen wenigen Tagen und mit gezielten Übungen wird Dein Hund zu dem, wovon Du schon lange träumst: Zugewandt, angepasst, unauffällig. Und es geht noch weiter: Diese Veränderungen verbessern auch Eure Bindung, der Traum von gegenseitigem Vertrauen, Liebe und Zuneigung fällt auf den fruchtbaren Boden Deiner tiefen Bedürfnisse – so heißt es da oft.

 

„Wunderbar!“, sagst Du, „Das probier ich gleich mal aus!“

 

Gebucht, paypal-bezahlt, teilgenommen und reingetappt in die Falle: Denn die Wunderlösung hilft irgendwie nicht – das Problemverhalten Deines Hundes bleibt oder schwächt sich bestenfalls kurzzeitig etwas ab, um an anderer Stelle oder in einer anderen Situation unvermittelt heftig wieder aufzutreten.

 

Ich kann verstehen, dass Du verzweifelt bist, nach gefühlt endlos langen vergeblichen Versuchen, das Problem in den Griff zu bekommen. Ich kann nachvollziehen, dass Du nach jedem sich Dir bietenden Strohhalm greifst. Du möchtest Deinem Hund helfen, denn diese Situation belastet Euch beide. Du spürst, dass irgendwas fehlt und vielleicht ist es ja genau dieses Teilchen, von dem in dem Angebot die Rede ist. Vielleicht braucht er wirklich die XYZ-Methode, um sein Verhalten zu ändern. Doch diese Werbeversprechen sind nicht zu halten, jedenfalls nicht generell und für jeden Hund. Und genau da liegt das Problem:

 

Stell Dir vor, Du hast Kopfschmerzen und gehst zum Arzt, der Dir dagegen Schmerztabletten verschreibt. Die Kopfschmerzen werden zunächst auch weniger, kehren dann jedoch zurück. Du nimmst mehr und stärkere Medikamente, doch der Effekt bleibt der gleiche, es kommen nun jedoch auch noch Magenschmerzen und Schwindel hinzu. Am Ende stellt sich heraus, dass Deine Kopfschmerzen aus dem Nacken und ständiger Anspannung resultieren. Du bekommst Physiotherapie, stellst Deine Lebensweise um, startest mit Sport und gezielter Entspannung und änderst vielleicht sogar Dein Lebensumfeld. Was ich sagen will, ahnst Du bereits: Es hilft eben nicht, nur an dem Symptom zu doktern und genau das passiert bei Methoden: Sie erfassen nur den einen Faktor von vielen, die Verhalten bedingen. Das muss nicht falsch sein, ist oft aber alleine nicht genug.

 

Das eigentlich Problem des Hundes bleibt bestehen.

 

Natürlich kann man mittels z.B. Konditionierung die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens verändern, aber: dies ist nur eine Manipulation des Verhaltens, jedoch keine Lösung der zugrundeliegenden Ursachen FÜR dieses Verhalten. Das eigentlich Problem des Hundes bleibt bestehen, nur die „Reaktion“ darauf wird verändert. Damit bleibst Du weit entfernt von: Es ist jetzt alles gut für den Hund.

 

Bei Deinem Hund und Dir geht es doch um viel mehr als nur die Regulation des Nervensystems, das Verändern der Auftretenswahrscheinlichkeit und das Abstellen von unerwünschtem Verhalten. Es geht doch um EUCH! Um Eure Beziehung, um Dich als Individuum, um Deinen Hund und seine Persönlichkeit.

 

IHR seid doch viel mehr als nur das Ergebnis von Belohnung und Bestrafung.

 

Dein Hund hat es verdient – und Du genauso, dass sich der Trainer, Berater, Coach, den Du um Hilfe bittest, ausführlich, intensiv und kompetent mit all dem auseinandersetzt, was Dich, Deinen Hund und Euch gemeinsam ausmacht. Dazu braucht es viel mehr als sich nur einen Aspekt herauszupicken und zu meinen, dies allein sei die Ursache allen Übels. Nehmen wir das Nervensystem, die Kuh von oben: Ja, das Nervensystem spielt eine bedeutende Rolle in jedem Säugetier. Und ja, das Nervensystem steht natürlich im Zusammenhang mit Verhalten. Dennoch ist eine Methode, die das Nervensystem reguliert, nur genau darauf ausgerichtet. Alle anderen Faktoren werden dabei nicht berücksichtigt.

 

Es wird nicht berücksichtigt, ob Dein Hund weiblich oder männlich ist, kastriert oder intakt, jung oder alt, blind oder taub, gross oder klein, vom Züchter oder Tierschutz. Es wird nicht gefragt, ob Du ländlich wohnst oder in der Stadt, wie Ihr zusammenlebt und welche Vorerfahrungen Dein Hund mitbringt. Obwohl es um das Nervensystem geht – fragt niemand danach, in welchem Zustand das Nervensystem DEINES Hundes z.B. aufgrund seiner Rasse/Genetik, seines Alters oder Geschlechtes ist.

 

All dies scheint keine Rolle zu spielen – tut es aber!

reine Symptombekämpfung - anstelle Analyse individueller Faktoren mit passgenauer Strategieentwicklung

 

Die generelle Regulation des Nervensystems ist dann nämlich genau das gleiche wie die Kopfschmerztablette: Eine reine Symptombekämpfung. Die kann im Einzelfall als Ergänzung hilfreich sein, löst aber wiederum oft genug nicht das eigentlich zugrunde liegende Problem. Die anderen individuellen Faktoren müssen für eine nachhaltige Veränderung des Verhaltens ebenso berücksichtigt werden. Man muss sich schon die Mühe machen, den jeweiligen Hund und seinen Menschen mit ihrer eigenen und der gemeinsamen Historie zu berücksichtigen, um auch Potenziale zu erkennen und ggf. auch problematische Entwicklungen vorhersagen zu können.

 

Beratungen von Mensch-Hund-Teams sind nicht mal eben schnell die Methode xyz aus dem Hut gezaubert – sie erfordern Zeit, Aufmerksamkeit, Zugewandtheit und Fachwissen über hündische und menschliche Psychologie. Irgendwelche Tipps, Kurse oder angeblich einfache Methoden können das gar nicht leisten. Es ist eben doch nicht so einfach wie es propagiert wird. Du hast die Wahl: Temu und Einweg oder Qualität und Nachhaltigkeit. Du und Dein Hund – Ihr habt es verdient, dass man sich individuell um Euch kümmert und nicht pauschal nach Schema F abspeist. Echtes Verständnis kommt von Verstehen. Die Änderung kommt dann von ganz allein.

 

Also: Augen auf beim Methodenkauf! 

 

Genießt Eure Hunde! ❤

 

© DOGTALKING SUSANNE LAST Tierpsychologie

 

 

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Was reaktive Hunde wirklich von Dir brauchen erfährst Du in diesem Vortrag!

Hyperaktiver Hund, Co-Regulation, Selbstregulation, DOGTALKING

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* Um die in den Filmen gezeigten, für Hunde meist unverständlichen Situationen nicht nachstellen zu müssen, wurden animierte Illustrationen zur Darstellung erschaffen. - Das auf der Webseite genutzte situative Fotomaterial ist in zufälligen privaten Alltagssituationen entstanden.